2. Jahrestagung des AK Protestantismusforschung - Konfessionelle Lebenswelt und Nationalsozialismus. Protestantische Milieus zwischen 1933 und 1945

2. Jahrestagung des AK Protestantismusforschung - Konfessionelle Lebenswelt und Nationalsozialismus. Protestantische Milieus zwischen 1933 und 1945

Organisatoren
Arbeitskreis Protestantismusforschung (AKPF)
Ort
Neudietendorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.04.2004 - 04.04.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Norbert Friedrich, Düsseldorf-Kaiserswerth

In den letzten Jahren ist das Themenfeld Nationalsozialismus und Protestantismus wieder stärker in das Blickfeld der Forschung geraten, die seit einigen Jahren ältere Auffassungen des Verhältnisses von Nationalsozialismus und Kirchen einer Revision unterzogen hat. Insbesondere Historiker und Historikerinnen machten sich daran, die bis dahin vorherrschende, primär theologische Perspektive auf den so genannten Kirchenkampf abzulösen. Gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Ansätze förderten die Dichte einer bisher verschwiegenen oder verdrängten nationalsozialistischen Durchdringung kirchlicher Strukturen wie Amtsträger zu Tage. Das Interesse an Mentalitäten, Denk- und Verhaltensmustern der protestantischen Bevölkerung im Dritten Reich ist dabei erheblich gestiegen. Denn neben der Amtskirche stabilisierten gerade die Vereine und Verbände des sozialen Protestantismus politische, theologische und soziale Grundhaltungen. Die Ergebnisse jüngerer kirchengeschichtlicher Untersuchungen auf diesem Feld haben das Erstaunen über die Verstrickung des Protestantismus in die NS-Gesellschaft weitgehend relativiert.
Auf der Tagung des Arbeitskreises Protestantismusforschung (AKPF) wurden die bisherigen Erträge unterschiedlicher Arbeiten mit sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Fragestellung an ausgewählten Beispielen vorgestellt. Eine Leitidee der Tagung war dabei die Annäherung an die Thematik über die Einteilung in verschiedene Milieus und Lebenswelten, eine für die Kirchengeschichte bisher wenig ausgelotete Perspektive. Zur Sprache kamen insbesondere die Lebenswelt der Kleinstadt einerseits und der Großstadt andererseits sowie die ländliche Lebenswelt.

ELLEN UEBERSCHÄR, Loccum, zeichnete in ihrem Eingangsvortrag den Horizont gegenwärtiger kirchenhistorischer Forschung zum Dritten Reich nach. Ein Paradigmenwechsel vollziehe sich in der Kirchen- und Religionsgeschichte nur langsam auf dem Hintergrund einer geschichtsmächtigen Deutung, die nicht nur in Wissenschaftskreisen, sondern stärker noch in der Evangelischen Kirche selbst vorherrsche. Dabei sei die Art und Weise, wie die Deutung eines komplexen Geschehens in einem einzigen Begriff, nämlich dem des "Kirchenkampfes" im Laufe der 1950er und 1960er Jahre zum vorherrschenden Paradigma werden konnte, inzwischen selbst zum Gegenstand des historischen Interesses geworden. In diesem Zusammenhang verwies sie auf Anschlussmöglichkeiten zur Diskussion um das Buch von Nicolas Berg.1
Der Zusammenhang von Erfahrung und Erinnerung sei auch für die Akteure der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung des Dritten Reiches ein lohnendes Untersuchungsfeld. Den gegenwärtigen Stand der Forschung charakterisierte sie in drei historiographischen Modellen. Zum ersten stellte sie ein ‚theologiepolitisches' Konzept vor, das, ähnlich wie die ältere Forschung, mit theologischen Vorentscheidungen operiere, die Ueberschär als bekenntnistheologische Matrix bezeichnete. Eine zweite Konzeption sei die sozial- und gesellschaftsgeschichtliche in christentumsgeschichtlicher Absicht. Sie wurde nach dem Historikerstreit publizistisch wirksam und bezog die bisher vernachlässigten Bereiche des sozialen Protestantismus in die Forschungen ein. So handelte es sich beispielsweise bei der Vernichtung lebensunwerten Lebens um ein Kernstück nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik, dessen Auswirkung auf die diakonischen Anstalten bis dahin im Dunkeln lag. Ein drittes Deutungsmodell, das gegenwärtig im Entstehen sei, umriss Ueberschär als die allmähliche Erweiterung der sozialgeschichtlichen zu einer kulturgeschichtlichen Perspektive in religionshistorischer Abzweckung. Dazu verwies sie auf einige neuere Kollektivbiographien von Pfarrern und Kirchenkreisen in einer Langzeituntersuchung. Ueberschär forderte für die künftige Forschung die Entwicklung einer neuen Terminologie für die Kirchengeschichte in der NS-Zeit und eine neue kirchenhistorische Periodisierung des 20. Jahrhunderts in europäischer Perspektive.
In der Diskussion kam ein Grundkonflikt neuzeitlicher Kirchengeschichte zur Sprache, bei dem es um die Rolle bestimmter theologischer Positionen geht. Kritisch wurde gefragt, ob die Dekonstruktion des ‚Mythos vom Kirchenkampf' nicht gnadenlos sei, weil doch die theologischen Optionen der Bekennenden Kirche nach heutigen Maßstäben ‚richtig' gewesen seien. Bei dem zuletzt dargestellten historiographischen Konzept drohe das Proprium, die Theologie, in der Kirchengeschichte verloren zu gehen. Dem wurde u.a. entgegengehalten, dass die Kenntnisnahme der Quellen, beispielsweise die Auswertung von Personalakten der Pfarrerschaft einer Region, von Historikern und Theologen mit denselben Methoden vorzunehmen ist. Der offenbarungstheologische Vorbehalt, gepaart mit einem tiefen Misstrauen gegen ein als historistisch angegriffenes Forschungsinteresse, ließ sich nicht ausräumen und begleitete als Grundspannung den weiteren Verlauf der Tagung.

Der Erfurter Kirchenhistoriker JOSEF PILVOUSEK beleuchtete kritisch die Geschichte der Katholizismusforschung nach 1945, wie sie sich in ihren unterschiedlichen Ausprägungen in Ost und West entwickelt hat. Einflussreich war besonders die katholische ‚Bonner Kommission für Zeitgeschichte', das Pendant der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte (früher ‚Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit'). Trotz aller großen und gelehren Produktivität vermisste Pilvousek die öffentliche Wirksamkeit der zahlreichen Forschungen. Zugleich beklagte er, dass die Reaktion der Zunft auf den aufsehenerregenden Aufsatz des nachmaligen Verfassungsrichters Wolfgang Böckenförde weitgehend ausgeblieben sei.2
Die Befürchtungen von Ueberschär, dass die evangelische Kirchengeschichtsschreibung die Deutungshoheit über die kirchliche Zeitgeschichte zunehmend einbüße, weil sie sich der zeitgenössischen historiographischen Methodendiskussion verweigere, wiederholte Pilvousek in modifizierter Form für die katholische Zeitgeschichtsforschung. Auch katholische Kirchenhistoriker beteiligten sich sichtlich weniger an zeitgeschichtlicher Forschung, was zur Folge habe, dass die theologische Kompetenz langsam aus der Kirchengeschichte auswandere. Pilvousek hob dann auf ein Thema ab, das die Katholizismusforschung mit besonderer Intensität, aber wenig neuen Erkenntnissen seit vierzig Jahren betreibe: die Rolle der Päpste Pius XI und XII. Dabei bezog er sich auf die in den 1990er Jahren erschienen Werke, die zum Teil in populistischer Manier (z.B. Goldhagen) selbst vor falschen Quellenangaben nicht zurückschreckten, um ihre Thesen zu untermauern. Pilvousek schloss sich Forderung von Thomas Brechenmacher an, wonach es darum gehen müsse, sich von der Fixierung auf die Person des Papstes zu lösen, die Dilemmata und tatsächlichen Handlungsspielräume auszuleuchten und die These von der altmodischen Diplomatie des Vatikans zu übernehmen, die in der Zeit des Krieges keine Handlungsmöglichkeiten bereithielt. Zuletzt hob Pilvousek auf die Frage der Vermittlung kirchenhistorischer Forschung ab. Zwar seien die Bände der Kommission für Zeitgeschichte wichtig und gewichtig, es lasse sich aber selbst in der wissenschaftlichen Literatur beobachten, dass ihre Inhalte nicht rezipiert würden. Die tiefsitzende Scheu vor Journalisten, vor der Vereinfachung komplexer Sachverhalte für ihre medientechnische Verarbeitung müsse überwunden werden zugunsten einer Vermittlungsstrategie, die grundlegend Neues auch einer breiteren Öffentlichkeit mitzuteilen im Stande ist.
Besonders dieser letzte Punkt wurde von einigen anwesenden Journalisten zustimmend aufgegriffen. Die Debatte ergab, dass die Gründe für die mangelnde Rezeption der Forschungsergebnisse auch bei den Kirchenhistorikern selbst zu suchen seien, die sich insbesondere mit den Medien schwer täten.

Lebenswelt Kleinstadt

Der Karlsruher Zeithistoriker ROLF-ULRICH KUNZE beschrieb am Beispiel der Universitätsstadt Heidelberg die spezifische protestantische Lebenswelt einer Kleinstadt. Dabei hob er die historisch bedingte Sonderstellung der badischen Landeskirche hervor, die in das überkommene Schema von zerstörten bzw. intakten Landeskirchen nicht hineinpasste. Ein Charakteristikum in Baden war die starke Stellung des Landesbischofs Kühlewein, der wiederum bemüht war, eine möglichst große Kompromissbereitschaft gegenüber den Nationalsozialisten zu zeigen. Bei der Suche nach Erklärungsmustern für diese badische Entwicklung ist man nach Kunze schnell versucht, mit der Milieutheorie zu operieren.3 Für Kunze sind diese Bemühungen jedoch nur sehr bedingt aussagekräftig. Die bisherige Milieuforschung führe in der Konsequenz zu einer Atomisierung bzw. Verabsolutierung des Milieus, demgegenüber gehe die übergeordnete Makroebene mehr und mehr verloren. Gerade das so entscheidende Phänomen des sozialen Wandels könne kaum beschrieben werden. Kunze plädierte demgegenüber für einen Verzicht auf den Milieubegriff und den damit zusammenhängenden Forschungsansatz, er möchte vielmehr - praktisch durch eine Entideologisierung des Milieubegriffs - den Handlungsmustern von Einzelnen und Gruppen in einem überschaubaren Raum nachspüren. Diesen Ansatz führte Kunze am Beispiel der Heidelberger Theologischen Fakultät im Dritten Reich vor. Im Mittelpunkt seiner Darstellung stand das Wirken Helmut Thielickes, der hier von 1936 bis 1939 einen systematischen Lehrstuhl vertrat und seine Heidelberger Jahre in autobiographisch beschrieben hat.4 Dabei verwendete Kunze methodisch u.a. das von Clifford Geertz entwickelte Modell der "dichten Beschreibung". Thielickes Erinnerungen erlaubten durch die professionsbiographische Zugehensweise einen guten Einblick in ein akademisches Milieu zwischen Konformismus und Resistenz. Dies gelte auch unabhängig davon, ob die gegebenen Informationen alle einer historisch notwendigen Überprüfung standhielten. In diesem Zusammenhang stellte Kunze ein geplantes Forschungsprojekt zur Geschichte der badischen Pfarrerschaft im Dritten Reich vor.

Einen anderen Zugang wählte der Greifswalder Kirchenhistoriker IRMFRIED GARBE, der in einem Koreferat das kirchliche Milieu Greifwalds und der pommerschen Landeskirche beschrieb und den methodischen Ansatz Kunzes kritisierte. Auch er formulierte eine grundsätzliche Skepsis und Kritik an der wissenschaftlichen Milieutheorie, da die Milieuforschung die entscheidende Kontingenz der Lebensbeziehungen verdunkle. Seine These lautete dagegen, dass gerade der Zufall, die zufälligen Begegnungen für die Geschichte entscheidend sei. Dies sei auch für die Situation im Kirchenkampf an der Greifswalder Fakultät zentral gewesen. An den grundlegenden Forschungen von Helge Matthiesen 5 kritisierte er eine menschenferne Milieukonstruktion, die gerade die Individualität von Lebensgeschichte nicht in den Blick nehmen könne. In diesem Sinne plädierte Garbe für eine Geschichtsschreibung, die die Würde des Individuums in der Geschichte (wieder) ernst nehme.

Ländliche Lebenswelt

WOLFHART BECK, der unter zu Hilfenahme des Leitbegriffes Milieu eine herausragende Langzeitstudie zur Entwicklung des westfälischen Kirchenkreises Lübbecke vorgelegt hat,6 beleuchtete dessen Veränderung im Dritten Reich. Die gesteigerte Krisenmentalität, die sich vom Vormarsch der ‚Gottlosen' bedroht sah, bestimmte in der späten Weimarer Zeit das kirchlich religiöse Selbstbewusstsein. Der Machtantritt der Nationalsozialisten wurde daher nicht nur in politischer Hinsicht als Befreiung erlebt, sondern auch aus kirchlich-religiösen Motiven begrüßt. Es gelang den NSDAP-Funktionären vor Ort, die Partei als Bewahrerin von Tradition und christlicher Sitte zu etablieren. Gleichzeitig jedoch wehrten sich die Gemeinden gegen die aufkommende Gruppe der Deutschen Christen und schlossen sich fest in der Bekennenden Kirche zusammen. Die kirchlichen Wahlordnungen erschwerten es den Deutschen Christen ohnehin, die Gremien so zu erobern, wie das in anderen Territorien, beispielsweise Berlin, der Fall war. Eine zentrale Rolle kam dem lutherischen Bekenntnis zu, das nun seine orientierungsstiftende Kraft erwies und dem Verdichtungsprozess des Milieus Vorschub leistete. Pfarrer und Kirche waren in der ländlichen Gesellschaft stärker verwurzelt, als es die antichristlichen Vorkämpfer der Partei zunächst vermutet hatten. Die Resistenz gegenüber den Bemühungen, kirchliche Bindungen zu lösen, stellte eine konservative Gegenbewegung zu den Vorstößen der Partei dar, das althergebrachte Normengefüge aufzubrechen. Dennoch zeigten sich an den Rändern des volkskirchlichen Milieus Auflösungstendenzen, die erst in den 1950er Jahren voll zum Tragen kamen.

Der Leiter der evangelischen Akademie Thüringen, THOMAS A. SEIDEL, wandte sich der ländlichen Lebenswelt am Beispiel Thüringens zu. Kirchlich war gerade Thüringen und die erst 1918 gegründete lutherische Landeskirche ein besonders Experimentierfeld verschiedener religiöser und politischer Ideen (z.B. Max Maurenbrecher, Guida Diehl, Thüringer Kirchenbewegung Deutsche Christen). Für das heterogene Thüringen war nach Seidel besonders die bäuerliche Identität ein entscheidender Faktor. Sie verband sich mit einem vielschichtigen deutsch-nationalen Netzwerk. In diesem Netzwerk wurden schon weit vor 1933 mit Siegfried Leffler und Julius Leutheusser, den Begründern der ‚Kirchenbewegung Deutsche Christen', Personen aktiv, die sich in die völkisch-militante Mentalität einpassten. Ein Charakteristikum der kirchlichen Öffentlichkeit in Thüringen sah Seidel in der Militarisierung der Gesellschaft, er sprach hierbei von einer "bellizistischen Dramatisierung des Alltags". Die scharfe und kontroverse politische Polarisierung der Landschaft führte gerade in den Städten zu einer Radikalisierung in Gestalt der Deutschen Christen, die wiederum in den in bäuerlichen Gegenden Thüringens auf Widerstand stießen.
In der Diskussion verwies Jochen-Christoph Kaiser auf den extrem antikirchlichen Kurs linkssozialistischer Religionspolitik in der Weimarer Zeit. Dies erklärt immerhin die Sympathien zum nationalkonservativen bis nationalsozialistischen Spektrum. Warum sich allerdings ein Teil der Pfarrerschaft und die Theologische Fakultät in Jena in besonderer Weise radikalisierten, verweist möglicherweise noch auf eine andere Erklärung. Antje Roggenkamp gab zu bedenken, dass einerseits das konfessionelle Umfeld berücksichtigt werden müsse - die An- bzw. Abwesenheit von katholischen Christen bestimmte signifikant kirchliches Verhalten - und zum anderen sei auch in anderen Bereichen eine Anfälligkeit gerade des liberalen Milieus gegenüber der nationalsozialistischen und der deutsch-christlichen Ideologie bekannt.
Letztlich wurde für beide Lebenswelten deutlich, dass die ländliche Prägung zwar einherging mit einem nationalkonservativen Grundkonsens, der sich bis hin zu völkischem Ideengut ausweiten konnte, dass aber andererseits die konfessionelle Stabilität der Region von ausschlaggebender Bedeutung für die Verdichtung oder Erosion des kirchlichen Milieus war. Während diese Stabilität in Lübbecke stark ausgeprägt war, schien gerade die konfessionelle Diversität, der eine lutherische Identität in den 1920er Jahren geradezu aufgesetzt worden war, den volksmissionarischen Wahnkonzepten der Deutschen Christen in Thüringen fruchtbaren Boden zu bieten.

Lebenswelt Großstadt

Der Hamburger Historiker und Archivar RAINER HERING referierte über die kirchliche Situation in der Großstadt Hamburg, einer mehrheitlich protestantischen Stadt, auch wenn man seit dem Kaiserreich ein kontinuierliches Absinken der Kirchlichkeitsziffern feststellen kann. Hering präsentierte in einem sozial- und politikgeschichtlichen Zugang die wesentlichen Bedingungen für die Entwicklung von Kirche und Kirchlichkeit in Hamburg ab 1918. Gerade die Politik des Hamburger Senates nach 1918 richtete sich gegen die Kirche, hier kann ein Grund für die Ablehnung der Demokratie gesehen werden. Ein weiterer lag in der tiefen deutschnationalen und theologisch-orthodoxen Prägung vieler kirchlicher Repräsentanten. Geprägt wurde die kirchliche Szene nach 1933 besonders durch Bischof Franz Tügel, der Simon Schöffel ablöste.7 Ausführlich schilderte Hering die Zeit des Bischofs Tügel, der sich, als überzeugter Nationalsozialist und Antisemit, von einem Parteigänger der Deutschen Christen zu einem ‚neutralen' Bischof wandelte, der die kirchenpolitische Landschaft Hamburgs auf überregionaler Ebene beherrschte. Für Hamburg sah Hering im Jahr 1943 (u.a. schwere Bombenangriffe), eine entscheidende Zäsur der Kirchengeschichte. Da aber die bisherigen Forschungen sich auf der Ebene der Landeskirche bzw. auf biografische Studien konzentrierten , können genauere Aussagen zur Entwicklung der kirchlichen Milieus in Hamburg zwischen 1933 und 1945 erst gemacht werden, wenn weitere, derzeit in Arbeit befindliche Untersuchungen vorliegen. etwa eine derzeit laufende Studie zu den Kirchengemeinden Hamburgs nach 1933.

MANFRED GAILUS, Neuhistoriker in Berlin, begann mit den Aufzeichnungen des Grunewalder Pfarrers Hermann Priebe in der Berliner Kirchlichen Rundschau von 1914, der das in den Arbeiterquartieren im Osten der Stadt grassierende soziale und religiöse Elend plastisch beschrieb. In diesen Notizen sprach sich eine konservativ-protestantische Angstprojektion aus, die Teil jener ‚nationalprotestantischen' Mentalität war, die den Protestantismus trotz oder gerade wegen der Ablösung der Monarchie insgesamt prägte. Diese Mentalität setze sich zum einen aus der beschriebenen Säkularisierungsfurcht und zum anderen aus einer unerträglichen Überbetonung des Nationalen zusammen. Der christlich motivierte Antijudaismus bildete dabei einen wesentlichen Bestandteil.
Gailus ging dann auf die um 1933 aktive Pfarrergeneration anhand einiger biographischer Beispiele ein. Er kam dabei auch auf das Umfeld von Horst Wessel zu sprechen, der in einem Pfarrhaus in der Berliner Innenstadt aufgewachsen war. Mit seinen eng am professionsbiographischen Erklärungsansatz entlanggehenden Aussagen versuchte Gailus festzumachen, woran die so fest scheinende Mentalität schließlich zerbrach und den Protestantismus des Dritten Reiches in wenigstens zwei Lager teilte: Während die eine Fraktion, die Deutschen Christen, glaubte, die neuen politischen Maßstäbe mit dem Glauben und der Kirchlichkeit vereinbaren zu können, rief sie eine andere Fraktion, die Berliner Kirche, auf den Plan, die zu einem derartigen Konsens nur in eingeschränktem Maße bereit war. Gailus betonte, dass die Initiative zur Umformung der Berliner Kirche im deutsch-christlichen Sinne nicht von außen kam, sondern aus der Mitte der Kirche selbst, von den Pfarrern ausgegangen sei.
In der Diskussion gefragt, ob er nicht im Sinne des Vansittartismus eine Kontinuität ‚Luther-Stoecker-Hitler' konstruiere, entgegnete Gailus, dass der mentale Umbruch des Protestantismus erst in den 1970er Jahren wirksam wurde. Den Zeitraum 1870 bis 1970 betrachtete er als die Zeit der selbstgewählten ‚babylonischen Gefangenschaft' der Kirche, die sich seit Stoecker mit dem volkskirchlichen Ansatz verbunden habe. Die Jahre des Dritten Reiches hätten dabei nur den Höhe- bzw. Tiefpunkt gebildet.
Beide Vorträge, die unterschiedlichen Forschungsansätzen folgten, offenbarten Möglichkeiten des Vergleiches: Die Ausgrenzung der Arbeiterviertel geschah in Hamburg ähnlich wie in Berlin, der Säkularisierungsdruck und die Angst vor der Gottlosenbewegung und den Kommunisten beherrschten die protestantische Weltsicht in beiden Städten. Unterschiede zeigten sich in der kirchenpolitischen Entwicklung im engeren Sinne: Während es unter Bischof Tügel in Hamburg nicht zu einem scharfen Riss in der Kirche kam, da Kirchenführung und Integration abweichender Positionen möglich waren, entbrannte in Berlin ein schwerer "Bruderkampf im eigenen Haus" (Gailus). Die Formierung einer ‚Bischofskirche' erwies sich in Berlin als unmöglich.

Die Schlussdiskussion griff noch einmal die Tagungskonzeption auf. War es gelungen, mit einer methodischen Strukturierung neue Erkenntnisse zu gewinnen, die bei dem Zugriff an der Basis ansetzen?
Die in den Referaten präsentierten Forschungsergebnisse sowie die unterschiedlichen methodischen Zugänge zu einem vermeintlich gut erforschten Gegenstand konnten nicht nur die Kenntnisse über das Thema ,Kirche und Nationalsozialismus' erweitern; ein weiteres wichtiges Ergebnis der Tagung lag auf methodischem Gebiet: Der gerade von protestantischer Seite in den letzten Jahren entdeckte Milieu-Ansatz wurde nahezu einhellig problematisiert und damit ein Stück weit ‚entzaubert' und in Frage gestellt.
Als Ergebnis lässt sich feststellen, dass Handlungen unter Herrschaftsbedingungen der Diktatur nur in eingeschränktem Umfang auf die Milieuprägung zurückzuführen sind. Zudem zeigte sich der Begriff eines - parallel zum katholischen - evangelischen Milieus als der Sache nicht angemessen. Wenn überhaupt, können nur bestimmte soziale Gruppen in eingegrenzten sozialen und politischen sowie kirchlichen Kontexten als Milieu gefasst werden. Insofern wäre das Milieu eine hilfreiche Konstruktion in der Absicht, Verdichtungsprozesse bestimmter regional, sozial, religiös abzugrenzender Gruppen zu beschreiben. Damit soll jedoch nicht eine solide sozialgeschichtliche Forschung für obsolet erklärt werden, im Gegenteil, sie ist, nach einhelliger Meinung der Diskutanten nötiger denn je in den noch immer von theologiepolitischen Argumenten bestimmten Forschungskontext einzuspeisen. Der von Martin Broszat bzw. Peter Hüttenberger stammende ‚Lebensweltbegriff' scheint jedenfalls offener zu sein, als der in seiner Interpretation überdehnte Milieu-Begriff, der zwar von Wolfhart Beck erfolgreich, aber auch von ihm in der mentalitätsgeschichtlichen Erweiterung verwendet wurde. Als besonders bemerkenswert erschien in seinen Ausführungen vor allem der Wandel zur allmählichen Erosion des protestantischen ‚Milieus' auf dem Lande in Kriegs- und Nachkriegszeit.

Workshops

Grosse Resonanz fand bei Teilnehmer/innen und Referent/innen der erstmals im Kontext einer AKPF-Jahrestagung durchgeführte Workshop zur Kirchlichen Zeitgeschichte, der laufende und abgeschlossene Forschungsarbeiten präsentierte.
An die Kurzvorträge schlossen sich intensive Diskussionen an, in denen Unabgeschlossenes besprochen werden konnte. Hinweise auf weiterführende Literatur oder neue, überraschende Aspekte erweiterten den Horizont nicht nur der Zuhörenden, sondern auch der Forscher und Forscherinnen selbst. Auf diese Weise wurde die Intention eines zu schaffenden interdisziplinären Netzwerkes ein entscheidendes Stück vorangebracht. Hinzu trat etwas, was oft eingefordert, aber selten realisiert wird: der Austausch zwischen Wissenschaftlern und den anwesenden Archivaren. Am Schnittpunkt von Überlieferungsdichte, Quellenwahrnehmung und historiographischem Interesse taten sich wichtige Aspekte der Vernetzung auf, die innerhalb des AKPF auch in der Zukunft kultiviert werden sollen.

HANS JÖRG BUSS stellte als Work-in-progress seine Untersuchung zu christlichem Antijudaismus und Antisemitismus am Beispiel der ev.-luth. Landeskirche und zum protestantischen Sozialmilieu der Hansestadt Lübeck 1918-1950 vor. Die evangelisch-lutherische Kirche war in Lübeck ein einflussreicher, mentalitätsprägender Faktor. Obwohl sich in großbürgerlichen Gemeinden eine gewisse Distanz zum Unrechtsregime hielt, konnte die institutionelle Kirche vollständig von radikalen nationalkirchlichen Kräften übernommen werden. Die Wahl eines Deutsch-Kirchlers, der die Kirche in ihren Grundlagen ablehnte, zum Bischof wurde nur knapp verhindert. Ein praktischer Antisemitismus und die aktive Unterstützung der nationalsozialistischen Rassenpolitik gehörten zu den grundlegenden Kennzeichen der Lübecker Kirchenführung im NS-Staat.

INGO BADING präsentierte Überlegungen zur Interpretation der Ludendorff-Bewegung und bezog sich näher auf ihre Einstellung zum evangelischen Kirchenkampf. Er ordnete die neuheidnische Bewegung in den Kontext der ‚Gottgläubigen' ein und zeigte auf, wie sich sowohl Deutsche Christen als auch die Apologetische Zentrale in Berlin-Spandau gegen die Religionsphilosophie der Pastorentochter Mathilde Ludendorff und gegen den Tannenbergbund abgrenzten. Eine aufschlussreiche Quelle sind die Rundbriefe, der Ludendorffs an ihren Freundeskreis, in denen auch die Auseinandersetzungen in der Evangelischen Kirche reflektiert werden.

CLAUDIUS KIENZLE erläuterte sein ambitioniertes Projekt, das am Beispiel dreier württembergischer Kirchenkreise zeigen will, wie gesellschaftlicher Wandel in den 1950er und 1960er Jahren in kirchlichen Kreisen rezipiert und verarbeitet wurde. Die ausgesprochenen Wachstumsregionen in der Umgebung Stuttgarts mit teilweise stark ausgeprägter Konfessionskultur versprechen Aufklärung über den ‚kirchlichen Protestantismus' der Bundesrepublik vor 1968.

CHRISTINE MÜLLER-BOTSCH legte einen Ausschnitt ihrer Dissertation vor, der das Engagement eines unteren Parteifunktionärs der NSDAP im lebensgeschichtlichen Kontext des württembergischen Pietismus beleuchtet. Auf der Basis eines selbst geschriebenen Lebenslaufes erweist sich, dass die für den Pietismus typischen Sinnkonstruktionen und Rechtfertigungsmuster auf das Engagement in der Partei übertragen wurden.

KAROLINE KLAS berichtete von ihrem abgeschlossenen Dissertationsprojekt zu den Kirchenpatenschaften im geteilten Deutschland, wobei sie sich auf die 1950er Jahre konzentrierte. Sie analysierte sowohl politische Implikationen bzw. Komplikationen als auch kirchenpolitische und zwischenmenschliche Beziehungen, die sich im Umfeld dieser Patenschaften entwickelten. Exemplarisch stellte sie die Paten- später in Partnerschaft umbenannte Verbindung der württembergischen mit der thüringischen Landeskirche vor.

SIMON KUNTZE beschäftigte sich mit dem Schweizer Alttestamentler Wilhelm Vischer(1895-1988), indem er dessen Forschungen zum Alten Testament, insbesondere das 1934 erschienene Buch "Christuszeugnis im Alten Testament" in den zeitgeschichtlichen Horizont einordnete. Vischer, wegen regimekritischer Äußerungen an der Kirchlichen Hochschule (KiHo) Bethel untragbar geworden, wurde 1933 suspendiert und ging 1934 in die Schweiz zurück. Er hielt an der bleibenden Erwählung der Juden und an der Geltung des Alten Testamentes auch für die Christen fest, da er die beiden Testamente durch das Christuszeugnis untrennbar miteinander verbunden sah und damit der Kritik der Deutschen Christen am Alten Testament vehement entgegentrat. Das trug ihm zwar von der exegetischen Fachforschung (Gerhard von Rad) den Vorwurf ein, aus dem Alten Testament ein ,monotones Christuszeugnis' zu machen, bedeutet aber andererseits, dass Vischer auch heute noch als ein herausfordernder Gesprächspartner im christlich-jüdischen Dialog ernst zu nehmen ist.

SIMONE RAUTHE berichtete aus ihrer kürzlich fertig gestellten Dokumentation zur Disziplinierung kirchlicher Mitarbeiter durch das rheinische Konsistorium.8 Neben der ausführlichen Darstellung der Opfer, deren Lebensläufe Rauthe nachverfolgte, stellte sie auch Täterbiographien vor, soweit sie mit Hilfe der Akten des Konsistoriums zu ermitteln waren. In dieser doppelten Sicht auf die Opfer behördlicher Willkür und ihre Vollstrecker liegt in Verbindung mit der erstmaligen Auswertung der konsistorialen Verwaltungsakten eine Pionierleistung vor.

UWE KAMINSKY gab Einblicke in ein Projekt über die Auslandarbeit der Kaiserswerther Diakonie im 20. Jahrhundert. Dabei geht es um den Wandel von Mission und weltweiter Diakonie im Rahmen der Entwicklungshilfe der Nachkriegszeit.

TANJA HETZER berichtete aus ihrer laufenden Dissertation zum Verhältnis von politischer Theologie und Antisemitismus bei deutschen Lutheranern zwischen den 1930er und 1950er Jahren. Für Werner Elert, den sie beispielhaft vorstellte, sei die Diskrepanz zwischen dem Antisemitismus in Predigten und dem Schweigen zu diesem Thema in den veröffentlichten theologischen Schriften auffällig. Elert hielt an den Prinzipien lutherischer Ordnungstheologie auch nach dem Ende des Nationalsozialismus fest, wie sich aus der 1948 erschienenen Aufsatzsammlung "Zwischen Gnade und Ungnade" entnehmen lässt, die einer pauschalen Entschuldung des deutschen Volkes nach wie vor das Wort redet.

CORNELIA SCHLARB beleuchtete die konfessionsspezifische Wahrnehmung des Nationalsozialismus in Gemeinden der deutschen Minderheit in Rumänien, die sich in deren Publikationen spiegelt.

Insgesamt gesehen hat diese zweite. Jahrestagung des ‚Arbeitskreises Protestantismusforschung' erneut demonstriert, dass die Bildung eines solchen, allen interessierten Forscherinnen und Forschern zugänglichen Forums im vergangenen Jahr mehr als überfällig gewesen ist. Der nach dem Vorbild des ,Schwerter Arbeitskreises für Katholizismusforschung' ins Leben gerufene AKPF bietet als Teil eines größeres Netzwerks zur Kirchlichen Zeitgeschichte allen Interessierten die Chance, sich mit Ergebnissen, methodischen Innovationen und Problemen der jüngsten Christentumsgeschichte kritisch auseinanderzusetzen. Ein Tagungsband wird im kommenden Jahr erscheinen.

Anmerkungen:
1 Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker Erforschung und Erinnerung, 3. Aufl., Göttingen 2004
2 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Kirche und demokratisches Ethos, Freiburg 1988.
3 Vgl. z.B. Detlef Schmiechen-Ackermann, Anpassung, Verweigerung, Widerstand. Soziale Milieus, politische Kultur und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland im regionalen Vergleich, Berlin 1997.
4 Helmut Thielicke, Zu Gast auf einem schönen Stern, Hamburg 1984.
5 Helge Matthiesen, Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu in Kaiserreich, Demokratie und Diktatur, Düsseldorf 2000.
6 Wolfhart Beck, Westfälische Protestanten auf dem Weg in die Moderne. Die evangelischen Gemeinden des Kirchenkreises Lübbecke zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, Paderborn et al. 2002.
7 Vgl. dazu Rainer Hering, Die Bischöfe Simon Schöffel, Franz Tügel, Hamburg 1995.
8 Dies., ,Scharfe Gegner'. Die Disziplinierung kirchlicher Mitarbeiter durch das Evangelische Konsistorium der Rheinprovinz und seine Finanzabteilungen von 1933-1945, Bonn 2003.


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